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Prokrastination: Chronische Aufschieberitis

von Liesa Nagel on . in 1. Selbstführung, 2. Selbstmanagement, 3. Zeitmanagement

Unangenehme Aufgaben vertagen, Entscheidungen bis zuletzt hinauszögern – das macht jeder ein bisschen. Aber wann wird ständiges Aufschieben zum ernsthaften Problem?

 

Prokrastination

Prokrastination

Wer kennt das nicht? Auf dem Schreibtisch wartet ungeduldig die Steuererklärung, die Aufforderung vom Finanzamt liegt daneben. Diverse Unterlagen bräuchten Ihre Aufmerksamkeit. Eigentlich müssten Sie die Geburtstagsfeier bei der Tante noch absagen und den Termin für die längst überfällige Vorsorgeuntersuchung machen. Vom Chaos im Keller wollen wir gar nicht erst anfangen … hätte, müsste, könnte, sollte …

„Ein bisschen Aufschieben ist normal“, beruhigt der Berliner Psychoanalytiker Hans-Werner Rückert, Autor eines Bestsellers zum Thema (*), „Manchmal macht Aufschieben ja sogar Sinn.“ Zögert man etwa die Anschaffung eines neuen Computers oder eines neuen Autos heraus, bekommt man oft ein günstigeres Angebot oder sogar ein besseres Model für den gleichen Preis. „Anspruchsvolle Vorhaben, wie zum Beispiel eine Weltreise, brauchen sogar den Aufschub, damit man sie vernünftig vorbereiten kann.“

Unsere liebsten Vermeidungsthemen

Laut einigen Studien haben rund 20 Prozent unserer Mitmenschen Probleme damit, Aufgaben einfach zu erledigen. Dabei stehen Hausarbeit und der ungeliebte Papierkram ganz oben auf der Liste.

Und wer kennt das nicht? Erst, wenn die Deadline schon winkt, kommen wir so richtig in Fahrt. Das Adrenalin der davonrennenden zeit kickt und wir erledigen alles im Eiltempo auf den letzten Drücker. Und damit schaffen wir uns sogar einen Schutzwall vor schlechter Bewertung. Denn: Hätten wir mehr Zeit investiert, dann wäre das Ergebnis um einiges besser geworden!

Was und hier ausbremst und abhält kennen wir wohl alle schon beim Vornamen: Die Aufschieberitis, Fachausdruck: Prokrastination. Sie ist bereits seit den 70er-Jahren Gegenstand intensiver psychologischer Forschung. Dabei ist Sie kulturunabhängig und geht durch alle Gesellschaftsschichten, betrifft alle Geschlechter und kann sogar krankhafte Züge annehmen.

Wann wird das Aufschieben behandlungsbedürftig?

Chronisches Aufschieben kann ein Symptom oder auch der Auslöser einer Depression oder Angststörung sein. Auch andere Persönlichkeitsfaktoren oder -störungen können ihr zugrunde liegen. Ob das im Einzelfall zutrifft, kann mit Bestimmtheit nur ein Psychotherapeut sagen und bei Bedarf geeignete Therapiewege vorschlagen.

Behandlungsbedürftig ist die Prokrastination zum Beispiel dann, wenn wichtige Herausforderungen des Lebens systematisch vermieden und dadurch das Wohlbefinden und persönliche Entwicklung des Betroffenen dauer- und ernsthaft einschränkt werden. Zum Beispiel der Studienabschluss, die Trennung aus einer unglücklichen Beziehung oder der überfällige Jobwechsel. Psychotherapeut Rückert spricht hier von einer „Handlungsstörung“: „Der Betroffene ist fest davon überzeugt, dass das Vorhaben wichtig und dringend ist und nur von ihm persönlich erledigt werden kann. Dennoch schiebt er dieses Vorhaben aus für ihn unerfindlichen Gründen immer wieder auf.“ Zu dem Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, gesellen sich Scham und schlechtes Gewissen. Der Selbstwert geht in den Keller, man fühlt sich als Versager, als „fauler Hund“.

Notorische Aufschieber leiden oftmals

Wichtig ist hier aber vor allem zu sagen, dass das Ganz nichts mit Faulheit zutun hat! „Der Faulpelz vermeidet die Anstrengung, und es geht ihm gut dabei“, erklärt Rückert in seinem Buch. Der notorische Aufschieber hingegen leidet oftmals sehr – und ist dabei paradoxerweise trotzdem sehr fleißig. Selbst unliebsame Tätigkeiten erledigt er, wenn er damit jenen Aufgaben und Entscheidungen aus dem Weg gehen kann, die wirklich wichtig sind.

Dass massive Angst vor dem Versagen und die Scheu vor Auseinandersetzungen sie ausbremsen, ist vielen nicht bewusst. „In solchen Fällen ist das Aufschieben ein Abwehrmechanismus, um Gefahren, die den Selbstwert bedrohen, zu entgehen“, sagt Rückert.

Tja, aber warum schieben wir wichtige Dinge so oft auf? Weil der Mensch entwicklungsgeschichtlich nicht darauf vorbereitet ist, vorsorgend und arbeitsteilig zu handeln, meinen Evolutionspsychologen. Sie meinen, dass wir als Jäger und Sammler nur Aufgaben kannten, von denen unser Überleben abhing. Da gab es keine Entscheidungsmöglichkeiten. Laut diesen Studien wirkt dieses ursprüngliche Denken und Verhalten bis heute nach, wenn wir Dinge tun sollen, die wir auch morgen tun könnten. Oder übermorgen. Kein Wunder, dass die Prokrastination besonders dort gedeiht, wo Arbeitszeit frei eingeteilt werden kann: bei Studenten, Künstlern, Freiberuflern.

 

* Links zu Hans-Werner Rückert zum Buch oder zum Potcast.